Ein neues Literaturmilieu
Dass ein Medium eines oder mehrere neue Genre erzeugt, ist nichts ungewöhliches, eher schon eine Begleiterscheinung der medialen Auseinandersetzung: Das Radio erzeugte das Hörspiel, das Kino den Spielfilm und das Fernsehen beispielsweise die Serien, die Krimis, den Fernsehfilm. Ob nun die Verfasser der Hyperfiktionen die Avantgarde der Literatur von morgen sind, die nach Erweiterungsmöglichkeiten literarischer Gestaltungs- und Ausdrucksformen mit neuen Mitteln sucht oder die Arrièregarde der Literatur von gestern, die bekannte und bewährte Sprach- und Textspiele epigonal im neuen Medium reproduziert, der Ratlosigkeit dem Neuen gegenüber und der unsicheren Einschätzbarkeit zum Trotz lässt sich feststellen, dass hier ein neues Milieu für Literatur im Entstehen ist, das sich (nicht ganz freiwillig) ausserhalb der etablierten literarischen Welt angesiedelt hat. Der neu geschaffene soziale Raum der Hyperfictions, Cyberfictions, Webfictions, der Netzliteratur und Welttexte zeichnet sich aus durch ein hohes Mass an Experimentalität, durch künstlerischen Gestaltungswillen, der mehr als nur tradierte Formen transportieren will, durch Hybridität, durch narrative Eigenräumlichkeit, durch Nichtendgültigkeit, Streben nach Interaktivität und Event-ualität.
Die hervorstechenden Merkmale dieses neuen Kultur- und Literaturmilieus können aber wohl am einprägsamsten mit den beiden Begriffen des Transversalen und des Transfugalen umschrieben werden.
Als transversal hat Wolfgang Welsch in seiner Philosophie der zeitgenössischen Vernunftkritik allgemeine Denk- und Gestaltungsformen der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet. Schreiben und Denken im Netz, bzw. im World Wide sind als solche praktische Vollzüge transversaler Vernunft, die im Kontext von Internetliteratur strukturbildenden Charakter haben und sind, wie bsp. auch Mike Sandbothe feststellt, nicht zu trennen von der kreativen Installation von Hyperlinks, der ästhetischen Gestaltung des Designs von Webseiten und dem geschickten Programmieren mit HTML. Die auffallende Bereitschaft, die neuen Denkformen der Verflechtung, Verkreuzung unterschiedlicher Codes und Vernetzung zu erproben, die Welsch in der Sphäre der Kunst in sogenannten Hybridformen entdeckt, lässt sich in der praktischen Arbeit an Hypertexten beobachten und ohne Einschränkung auch auf das neue literarische Genre von Hyperfiktion übertragen.
Doppelcodierung, Komplexität (und Widerspruch) sowie Hybridbildung, wie sie sich vor allem die postmoderne Architektur zu erschliessen mühte (Robert Venturi: Complexity and contradiction in architecture, 1977. Und: Learning from Las Vegas 1977), war den Hyperfiktionen dank des integralen Nutzens der Computer- und Netzwerktechnik von Beginn an inhärent. Grenzüberschreitungen und fliessende Übergänge sind dabei automatisch Bestandteil der kreativen Prozesse geworden. Welsch stellt fest: Mit den Denkformen des Gewebes wird statt der alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse (Welsch 1996: 775) die sogenannte Übergängigkeit zwischen den Codes zur Elementarverfassung der Gestaltung und zur Bedingung ihrer Rezeption.
Der Begriff des Transfugalen dagegen umschreibt den Tatbestand der transitorischen Flüchtigkeit, der die neue Literaturform gleich in mehrfacher Hinsicht bestimmt: a) Jeder Autor sein eigener Herausgeber; b) relative Flüchtigkeit des materialen Datenträgers, bzw. der binären Datenspeicherung auf unterschiedlichsten, schnell veraltenden Datenträgern; c) unbegrenzte Eingriffsmöglichkeit über die Funktionen Speichern und Löschen sowie anderer Manipulationen.
So sind denn viele der Texte, welche die ersten Gehversuche der Hyperfiktionen repräsentierten, schon jetzt wieder von den Server-Computern gelöscht, mithin aus dem Raum der Internetliteratur verschwunden und einer weitern Rezeption unwiderruflich entzogen. Die bereits getilgten Texte hinterlassen zwar meist Spuren im Netz, doch eine komplette Regenerierung erweist sich wenn die Texte nicht auf einem separaten Datenträger gespeichert wurden oft als nicht mehr möglich. So ist der Internetliteratur und den Hyperfiktionen der prekäre Status des Flüchtigen, einer steten Fluchtbewegung durch das Medium Internet hindurch eingeschrieben, das sie gleichsam nur temporär passieren; im Sinne Deleuze liesse sich auch von einem steten Prozess der Deterritorialisierung, der temporären Reterritorialisierung und erneuten Deterritorialisierung sprechen. (Deleuze/ Parnet 1980)
Aber nicht nur auf der materialen Ebene des Mediums gilt dieses Konstitutionsmoment des Transfugalen; es bestimmt auch die Modalitäten des Umgangs, der Produktion und der Rezeption, ebenso wie der Textstruktur: Ihnen allen ist die Bewegung der Durch-Flucht eingezeichnet.
© Beat Suter, 25. Juli 2000