Christiane Heibach {biografie}

Die unsichtbare Geschichte:
(Mehr oder weniger provokante) Thesen zum Wesen der Netzliteratur

1. Wahre Netzliteratur arbeitet mit dem Unsichtbaren - der Vernetzung von Daten und Gehirnen.

2. Sie erzählt nicht mehr (nur) in Worten, sondern versucht, Spuren der Vernetzung und des Digitalen deutlich zu machen.

3. Dies erfolgt nicht mehr über - wie auch immer geartete - narrative Repräsentation innerer und/oder äußerer Welten, sondern über den Einsatz von Software und die Reflexion des Mediums, das neue Darstellungsformen erlaubt und verlangt.

4. Vor diesem Hintergrund können auch nicht-textuelle Dokumente zur Literatur gezählt werden - sie erzählen nämlich Geschichten über die Vernetzung und über die Mensch-Maschine- und Mensch-zu-Mensch-durch-die-Maschine-Beziehung.

5. Insofern verschreiben sie sich der "Repräsentation zweiter Ordnung" - d.h. der Darstellung von Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen dem Medium gegenüber sowie deren Veränderungen durch das Medium - "the medium is the message" lautet das Motto.

6. Gleichzeitig erzeugt sie neue Formen der Bedeutung und der Existenz, die den Status des Virtuellen haben - künstlich erzeugt, zwar eng mit unserer Weltenkonstruktion verbunden, aber dennoch die Gestaltungsspielräume der Softwareprogrammierung zur Modifikation unserer Wirklichkeitsvorstellungen nutzend.

7. Virtualität ist damit das vorherrschende Thema wahrer Netzliteratur: Virtualität der topographisch verteilten Kommunikation, der künstlich erzeugten Welten, des künstlichen Lebens - und deren Beziehung zur räumlichen Festlegung physischer Realitäten und ihrer Wahrnehmung.

8. Virtualität aber ist auch eine Realität - ein oppositioneller Dualismus hilft hier nicht weiter. Virtualität erweist sich als die Schnittstelle von Realität und Technik, von inneren (Wahrnehmungs- und Daten-)Prozessen und äußeren Tätigkeiten (Schnittstellenarbeit); Virtualität entsteht erst durch Vernetzung und Interaktion (mit Maschinen und Menschen), wobei ihre Gestaltung - im Gegensatz zur "first-world-construction" der individuellen Wahrnehmung schon ein kooperativer Vorgang ist. 

9. Virtualität ist - aufgrund der ihres Status als "realisierbarem Möglichen" - daher ebenso gekennzeichnet durch eine freie Transformierbarkeit - die Existenzformen sind nicht mehr festgelegt. Grenzüberschreitungen spielt sich auf allen Ebenen ab - der medialer sozialer Kommunikationssysteme (freie Transformierbarkeit von einem semiotischen System in ein anderes), der psychischer individueller Wahrnehmungssysteme (Synaesthesie - Kombination und Oszillation der Sinneswahrnehmungen), kommunikativer Interaktionen (Identitätswechsel) und des Gesellschaftssystems (Verschwimmen von Realität und Fiktion).

10. Netzliteratur erzählt damit - wie jede Literatur - die Geschichten der Menschen in neuer Form und unter veränderten Bedingungen: virtuelle, technisch erzeugte Existenzen verlangen neue, technisch erzeugte bedeutungstragende Systeme. In deren Entwicklung stehen wir noch ganz am Anfang.