Die unsichtbare Geschichte:
(Mehr
oder weniger provokante) Thesen zum Wesen der Netzliteratur
1. Wahre Netzliteratur
arbeitet mit dem Unsichtbaren - der Vernetzung von Daten und Gehirnen.
2. Sie erzählt nicht
mehr (nur) in Worten, sondern versucht, Spuren der Vernetzung und des Digitalen
deutlich zu machen.
3.
Dies erfolgt nicht mehr über - wie auch immer geartete - narrative
Repräsentation innerer und/oder äußerer Welten, sondern über
den Einsatz von Software und die Reflexion des Mediums, das neue Darstellungsformen
erlaubt und verlangt.
4. Vor
diesem Hintergrund können auch nicht-textuelle Dokumente zur Literatur
gezählt werden - sie erzählen nämlich Geschichten über die
Vernetzung und über die Mensch-Maschine- und Mensch-zu-Mensch-durch-die-Maschine-Beziehung.
5. Insofern verschreiben sie
sich der "Repräsentation zweiter Ordnung" - d.h. der Darstellung
von Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen dem Medium gegenüber sowie deren
Veränderungen durch das Medium - "the medium is the message"
lautet das Motto.
6.
Gleichzeitig erzeugt sie neue Formen der Bedeutung und der Existenz, die den
Status des Virtuellen haben - künstlich erzeugt, zwar eng mit unserer Weltenkonstruktion
verbunden, aber dennoch die Gestaltungsspielräume der Softwareprogrammierung
zur Modifikation unserer Wirklichkeitsvorstellungen nutzend.
7. Virtualität ist damit das vorherrschende Thema wahrer Netzliteratur:
Virtualität der topographisch
verteilten Kommunikation, der
künstlich erzeugten Welten, des
künstlichen Lebens - und deren Beziehung zur räumlichen Festlegung
physischer Realitäten und ihrer Wahrnehmung.
8. Virtualität aber ist
auch eine Realität - ein oppositioneller Dualismus hilft hier nicht weiter.
Virtualität erweist sich als die Schnittstelle von Realität und Technik,
von inneren (Wahrnehmungs- und Daten-)Prozessen und äußeren Tätigkeiten
(Schnittstellenarbeit); Virtualität entsteht erst durch Vernetzung und
Interaktion (mit Maschinen und Menschen), wobei ihre Gestaltung - im Gegensatz
zur "first-world-construction" der individuellen Wahrnehmung schon
ein kooperativer Vorgang ist.
9. Virtualität ist - aufgrund der ihres Status als "realisierbarem
Möglichen" - daher ebenso gekennzeichnet durch eine freie Transformierbarkeit
- die Existenzformen sind nicht mehr festgelegt. Grenzüberschreitungen
spielt sich auf allen Ebenen ab - der
medialer sozialer Kommunikationssysteme (freie Transformierbarkeit von einem
semiotischen System in ein anderes), der
psychischer individueller Wahrnehmungssysteme (Synaesthesie - Kombination und
Oszillation der Sinneswahrnehmungen), kommunikativer
Interaktionen (Identitätswechsel) und des
Gesellschaftssystems (Verschwimmen von Realität und Fiktion).
10. Netzliteratur erzählt damit - wie jede Literatur - die Geschichten
der Menschen in neuer Form und unter veränderten Bedingungen: virtuelle,
technisch erzeugte Existenzen verlangen neue, technisch erzeugte bedeutungstragende
Systeme. In deren Entwicklung stehen wir noch ganz am Anfang.